DER BETRIEB
Betriebliche Altersvorsorge in Niedrigzinszeiten – § 6a Abs. 3 Satz 3 EStG verfassungswidrig?!

Betriebliche Altersvorsorge in Niedrigzinszeiten – § 6a Abs. 3 Satz 3 EStG verfassungswidrig?!

Prof. Dr. Johanna Hey

Prof. Dr. Johanna Hey
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Kaum etwas scheint so offensichtlich wie die klaffende Lücke zwischen steuergesetzlichen Zinstypisierungen und realem Zinsniveau. Der Abzinsungsfaktor für Pensionsrückstellungen von 6% in § 6a Abs. 3 Satz 3 EStG – festgelegt 1981 in einer Hochzinsphase mit Renditen für festverzinsliche Wertpapiere von über 10% – ist meilenweit von der heutigen Realität der Kapitalmarktzinsen entfernt, und zwar egal welchen Referenzwert man betrachtet, ob man sich an der Negativverzinsung von Bundesanleihen, dem 0%-Leitzins der EZB oder den bei 3% liegenden Sollzinsen für Unternehmensanleihen bester Bonität orientiert.

Fiskalpolitische Untätigkeit

Der Gesetzgeber zeigt sich indes unbeirrt, obwohl selbst die Bundesbank im Zuge der jüngsten gesetzgeberischen Stützung des HGB-Rechnungszinses durch Verlängerung des Glättungszeitraums in § 253 Abs. 2 Satz 2 HGB (Gesetz vom 11.03.2016, BGBl. I 2016 S. 396) eine Korrektur der steuerlichen Bewertung von Pensionsrückstellungen angemahnt hat. Grund für diese Realitätsverweigerung dürften die hohen Kosten sein, mit denen eine Absenkung des steuerlichen Rechnungszinses verbunden wäre, machen doch Pensionsrückstellungen den größten Posten in den Steuerbilanzen deutscher Unternehmen aus. Eine Absenkung um nur einen Prozentpunkt würde über den gesamten Rückstellungsbestand mit Aufkommenseinbußen von 12 Mrd. € einhergehen. An der Unlust, den Missstand zu korrigieren, ändern auch die Haushaltsüberschüsse der letzten Jahre nichts, obwohl diese gerade auch auf die Niedrigzinspolitik der EZB zurückzuführen sind, dank derer sich die staatliche Zinslast halbiert hat. Es sind also durchaus budgetäre Spielräume vorhanden. Zudem ließen sich die – ohnehin nur temporären – Aufkommensverluste durch Übergangsregelungen abfedern.

Gleichzeitig würde eine steuerliche Entlastung im Bereich der Pensionsrückstellungen bestens zu dem Ziel einer Verbesserung der Rahmenbedingungen der betrieblichen Altersversorgung passen. Auf Grundlage zweier Gutachten – eines vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag gegeben, eines vom Bundesfinanzministerium – hat sich die Große Koalition gerade erst darauf geeinigt, die Förderung der betrieblichen Altersversorgung auszubauen. Können diese Maßnahmen überhaupt Erfolg haben, wenn in den unternehmerischen Bilanzen die Kluft zwischen HGB- und Steuerbilanz immer größer wird? Wenn Steuern gezahlt werden müssen, auch wenn handelsbilanziell kein Gewinn zur Verfügung steht? Doch der Illusion, dass Politik kohärent ist und sich einem Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung verpflichtet fühlt, sollte man sich nicht hingeben.

Verfassungsrechtliche Überprüfung

In verfahrenen Situationen wie dieser wendet sich der Blick gerne nach Karlsruhe. Die Realitätsverfehlung ist eklatant, macht sie § 6a Abs. 3 Satz 3 EStG auch verfassungswidrig?

Die Frage scheint schnell bejaht, schließlich hat sich das Gericht im Jahr 1984 schon einmal, und zwar anlässlich der 1981 vorgenommenen Anhebung von 5,5% auf 6%, mit der Angemessenheit des Rechnungszinses befasst (BVerfG vom 28.11.1984 – 1 BvR 1157/82, BVerfGE 68 S. 287 = RS0813844). Zwar hat es § 6a Abs. 3 Satz 3 EStG damals nicht beanstandet, was nicht weiter verwunderlich ist angesichts des damaligen Zinsniveaus von rd. 8%. Aber es hat auch deutlich gemacht, dass von Verfassungs wegen Anpassungen erforderlich sind, wenn die Zinsen sinken. Eine einschneidende Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse zwinge den Gesetzgeber jedenfalls zur Überprüfung, im Zweifel auch zur Anpassung, wenn sie der ursprünglichen gesetzgeberischen Entscheidung die Grundlage entzieht. Hätte das Gericht 1984 das heutige Zinsumfeld mit Null- bis Negativzinsen vorgefunden, wäre es wohl recht eindeutig zur Verfassungswidrigkeit von § 6a Abs. 3 Satz 3 EStG gekommen. Realitätsgerechtigkeit als Voraussetzung verfassungskonformer Typisierung erzwingt Anpassungen jedenfalls bei einer signifikanten und anhaltenden Änderung der Realität.

Seit dieser Entscheidung sind 30 Jahre ins Land gegangen. Ist sie wiederholbar? Zur Beantwortung dieser Frage sind zwei Rechtsprechungslinien zu betrachten. In der Entscheidung zur Bildung von Jubiläumsrückstellungen (BVerfG vom 12.05.2009 – 1 BvR 23/00, BVerfGE 123 S. 111 = RS1009697) hat das Gericht dem Gesetzgeber im Bereich der Gewinnermittlung einen großen Gestaltungsspielraum zugebilligt. Dies ändert freilich nichts daran, dass der Gesetzgeber auch bei der Ausgestaltung des Bilanzsteuerrechts durch das Willkürverbot gebunden ist. Und genau darum geht es hier. Typisierungen, die nicht an veränderte Rahmenbedingungen angepasst werden, sind durch nichts zu rechtfertigen, sie sind willkürlich. Hierzu gibt es mit den Einheitswertentscheidungen des BVerfG (vom 22.06.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93 S. 121 = DB 1995 S. 1740; 2 BvR 552/91, BVerfGE 93 S. 165 = DB 1995 S. 1745) gefestigte Präjudizien, jüngst mit großer Deutlichkeit bestätigt durch die Entscheidung zur Ersatzbemessungsgrundlage der Grunderwerbsteuer (BVerfG vom 23.06.2015 – 1 BvL 13/11, 1 BvL 14/11, DB 2015 S. 1702). § 6a Abs. 3 Satz 3 EStG ist in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen. Die Abkehr von der ursprünglichen Orientierung an Kapitalmarktzinsen ist gerade nicht das Ergebnis einer bewussten gesetzgeberischen Entscheidung. So ist, auch unter Berücksichtigung der seit 1984 ergangenen Rechtsprechung des BVerfG, schwer vorstellbar, dass § 6a Abs. 3 Satz 3 EStG einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung standhalten wird.